Taschenorakel

[Fotocredit: Foto von Andrea Piacquadio2, pexels]

Für eine Fantasygeschichte habe ich mir das Horakel ausgedacht. Es ist ein Kofferwort aus “Hora” (lat. für Stunde) und “Orakel” — eine Art Taschenuhr, die gleichzeitig ein Kurzzeitorakel ist.

Sie schaute sich um. Für einen lauen Sommerabend war ziemlich viel los in der rauchigen Taverne. Die Gäste waren mehr mit ihren Horakeln als mit ihren Nächsten beschäftigt. Es schien geradezu, als sei das Gegenwärtige wertlos in Anbetracht der möglichen Verheißungen der Zukunft. Wie musste es wohl vor dem Zeitalter der Vorsehung in Wirtshäusern zugegangen sein? Damals, als nicht jeder ein tragbares Kurzzeit-Vorhersage-Orakel sein eigen genannt hatte? Hatten die Menschen mehr gelacht, gesungen, geredet? Oder hatten sie wirkliches Würfelglück und -pech gehabt und die Umstehenden hatten schadenfroh gejohlt und gefeixt? Wer weiß?

Beiläufig warf sie einen Blick auf ihr eigenes Horakel. Der frühe Abend war bislang vielversprechend. Die langfristige Scheibe stand auf ›sieben Dolche‹, was vermutlich auf einen unehrlichen Lebenswandel des Halters der Uhr hinwies. Die kurzfristige Orakelscheibe zeigte das Symbol 52: ›Ruhe vor Unruhe‹, Zufall flatterte um einen neutralen Wert herum. In diesem Augenblick wechselte die astrologische Skalenscheibe auf ›roter Mond‹, was einer Ankündigung gleichkam. Dann sprang das Orakelsymbol auf ›Konfrontation‹.

Oha!

Erst später ging mir auf, dass eine solche Geschichte auch eine Near Future-Geschichte sein könnte, denn im Grunde sind mit unseren Handys alle Voraussetzungen dafür gegeben …

Doch bleiben wir erstmal bei Fantasy.
Stell dir also eine Welt vor, in der jeder Mensch ein Taschenorakel besitzt. Diese kleine Apparatur, ähnlich einer Taschenuhr, erlaubt es, ein bis zwei Minuten in die Zukunft zu blicken. Sie zeigt Ereignisse in Form von Symbolscheiben an – Gefahren, Begegnungen, Glücksmomente. Doch die wahre Kunst liegt in der richtigen Interpretation dieser Symbole. Würde man versuchen, seinem Schicksal zu entgehen?

Doch das Horakel würde auch eine Aura der Vorhersehbarkeit schaffen. Menschen könnten erkennen, ob eine Begegnung eine Gefahr oder eine Chance darstellt. In Städten würden Passanten vorsichtig auf ihr Orakel schauen, bevor sie entscheiden, ob eine Unterhaltung lohnenswert ist, selbst Marktstände könnten ‘gescannt’ werden, bevor überhaupt ein Blick auf die Auslagen fällt. Spontaneität ginge verloren, ersetzt durch Selbsterhaltung und optimale Chancenabschätzung. Selbst Abenteuer würden anders ablaufen, wenn die Protagonisten allen Gefahren aus dem Weg gehen könnten. Die Storyline könnte seltsam flach geraten … :D
Gleichzeitig könnte es Menschen geben, die sich gegen das Taschenorakel entscheiden. Sie würden Spontaneität, Mut und Vertrauen in das Leben wählen – eine Gegenbewegung zu den Orakelanhängern. Die Linie zwischen den Sicherheitsbedürftigen und denjenigen, die das Unbekannte suchen, würde schärfer gezogen.

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