Worüber ein Fantasy-Autor so nachdenkt … 😉
[Fotocredit: Engin Akyurt, Pexels]
Ich stellte mir eine isolierte Stadt vor, in der die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte einen Reliquien-Kult entwickelt hatten. Sie verehrten die sterblichen Überreste von Heiligen und kirchlichen Würdenträgern. Auch mit diesen in Berührung gekommene Objekte wurden als geheiligt und wundertätig anerkannt. Deshalb bewahrte man sie in prachtvollen Schulter-Schreinen auf, die Solitum Aureum – das „Goldene Joch“ (wörtlich „Schulterjoch“) – genannt wurden. Diese Schreine sollten den Träger mit dem Göttlichen verbinden. Sie waren bis zu sechsstöckig, besaßen eingelassene Fenster, durch die man Reliquien auf rotem Samt sehen konnte, und enthielten neben anderen geheiligten Gegenständen bis zu drei dekorierte Menschenschädel und zwei mumifizierte Hände.
Inspiration dazu gab es in meiner Nachbarstadt Köln galore, zum Beispiel in der Basilika St. Ursula. In dieser Kirche in Köln befinden sich (angebl.) die Gebeine der heiligen Ursula und ihrer Gefährtinnen, die in der sogenannten „Goldenen Kammer“ kunstvoll aufbewahrt und zur Schau gestellt werden. Diese Kammer ist BIS AN DIE DECKE mit zahlreichen Knochen und Schädeln verziert und schafft so eine einzigartige, zugleich faszinierende wie makabre Atmosphäre. Dazu gibts zahlreiche golden dekorierte Reliquienschreine mit Schau-Fenstern. Wer sich die Basilika noch nicht angesehen hat, sollte unbedingt in der Zukunft einen Besuch einplanen, denn das ist wirklich schroff und toppt aus dem Stand jeden H&M- oder Primark-Besuch in Köln.
Nachfolgend eine Szene aus meiner Kurzgeschichte “Das Zeitalter der Vorsehung”:
Das Zeremoniell aus der Ferne zu erleben, war etwas völlig Anderes, als mittendrin zu stecken. Der Platz wirkte grell erleuchtet.
Die Haut der Teilnehmer spannte sich über die Schädel. Trotz dicker Puderschichten waren die dunklen Adern kaum zu verbergen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen waren eingefallen. Besonders auffällig waren ihre unnatürlich langen Fingernägel, die ihnen ein monströses Aussehen verliehen.
Es gab eine Vielzahl kunstvoller Roben, die bei näherer Betrachtung nur noch Lumpen waren – so wie ihre. Das angelaufene Blattgold der Joche blätterte, eingelassene Fenster waren in den Jahren erblindet, Edelsteine gesplittert. Es roch nach Staub, Moder, altem Schweiß und grellen Parfüms, die all das überdecken sollten, was nicht ansatzweise gelang.
Statt Stille und Andacht gab es nur missgünstiges Schnalzen und bösartiges Zischen. Von den anderen Höflingen wurde Cassia hierhin und dorthin geschoben. Alle achteten nur auf sich selbst, seine Position, seinen Rang in einer Hierarchie. Niemand interessierte sich für sie, das kam ihr zupass. Aus der Ferne machten die Minen der Teilnehmer den Eindruck, als lutschten sie saure Drops. Je näher Cassia ihnen kam, umso verzerrter wirkten sie. Das lag offenbar nicht nur an den Mühen, das Joch zu schleppen. Generell gab es eine offen zutage tretende Missgunst jedem anderen Höfling gegenüber. Gesichter, die Frömmigkeit, religiöse Andacht, vielleicht sogar Verzückung hätten ausdrücken sollen, waren Grimassen aus Anstrengung, Abscheu und Hass. Erneut kam es zu einem Zwist um die Rangfolge. Eine der Hofschranzen verlor das Gleichgewicht und kippte in die Menge. Das Solitum Aureum zerbrach, setzte eine Staubwolke frei. Niemand half der oder dem Gestürzten, stattdessen ertönte ein vielstimmiges, niederträchtiges Zischen.
Unter dem Gewicht ihres Goldenen Jochs schob sich Cassia ächzend nach vorne. Endlich war sie an der Reihe! Bei den anderen Teilnehmern löste das eine Kaskade von Missfallensbekundungen aus.
»Warum beeilt es sich nicht?«, monierte der rote Pope mit seltsam hoher, doch herrischer Stimme. Er war hager bis zur Auszehrung, was seiner Statur etwas Heuschreckenartiges gab. Sein Kopf war ein langgezogener, leichenblass gepuderter Ellipsoid. Er trug eine winzige Metallbrille mit optischen Gläsern vor den Augen. Sein rotes Gewand war viele Nummern zu groß und warf wunderliche Falten. Sein Solitum Aureum hatte ganze sechs Stockwerke und enthielt neben anderem Krimskrams gleich drei dekorierte Menschenschädel und zwei Mumienhände.
Cassia kniete nieder, sie musste alle Selbstbeherrschung aufwenden, dass ihr Joch dabei nicht nach vorne kippte und den Popen erschlug. Seine Skeletthand mit den fünfzehn Zentimeter langen Fingernägeln war schauderhaft, aber wenigstens kühl und trocken. Umständlich küsste sie den goldenen Ring mit dem würfelförmigen Rubin. Ihr Plan war es, beim Aufstehen zu stolpern. Doch Cassias Erscheinen hatte die Choreographie der Hofhaltung wohl nachhaltig gestört. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde sie heftig von hinten angerempelt. Sie spürte das Gewicht ihres Jochs schwanken und dachte nur entsetzt: ›Nicht jetzt, bloß nicht jetzt!‹, was leider nicht half, denn sie kippte förmlich auf den Geistlichen. Die beiden Schulterjoche kollidierten krachend.
Der Pope stürzte wie ein unter seinem Gewicht kollabierender Kleiderständer zu Boden. Auf dem Rücken liegend, kreischte er mit der hohen Falsettstimme eines pikierten Pfauenmännchens.
Chaos brach aus, Cassia wurde von Umstehenden vom Würdenträger heruntergezerrt. Die aufgebrachte Menge schubste sie hierhin und dorthin. Vier bis fünf Teilnehmer gingen im Tumult zu Boden, es gab weitere zerbrochene Joche und Staubwolken – es war ein Hexenkessel!
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